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Zeichnungen: Wiebke Kowal  Text: Stefan Wartenberg  Gestaltung: Katrin Erthel

Lubok Verlag 2021

die betrachtenden



Wiebke Kowals Bilder von Betrachtenden zeigen eine unmögliche Perspektive. Es ist der Blick, den ein angeschautes Kunstwerk hätte, wenn es selber sehen könnte. Wie hinter Spiegelscheiben verschanzt, blicken wir den Betrachtenden ins Auge, die nicht uns sehen, aber Kunstwerke – jeweils ein ganz konkretes –, welche wiederum wir nicht sehen, nicht sehen können. Was das für Werke sind? Kowal verrät es uns in ihren eigenen Titeln, die eigentlich keine sind: o. T.– ohne Titel – und dann in Klammern: Sebastian Gögel: Ohne Furcht, In: Museum der Bildenden Künste Leipzig.
 

Die junge Frau, die die Figur ist, auf dem Bild, das diesen Titel ohne Titel trägt, hat ein schwarzweißkariertes langärmliges Hemd an, eine kurze, hellblaue Jeans, darunter schwarze Leggins. Was für Schuhe sie trägt, wissen wir nicht, die Figur ist knapp oberhalb der Knie abgeschnitten; hier endet das Blatt. Zum anderen Blattende, dem oberen, über ihrem Haar - das übrigens blond ist und hochgesteckt –, ist allerdings noch reichlich Platz. Man könnte meinen, sie hätte auch in Gänze auf das Papier gepasst. So wirkt sie wie von einem unsichtbaren Rahmen gehalten; wie durch ein Fenster fällt unser Blick auf sie,beziehungsweise jener, des zum Selber- Schauen erweckten Bildes. Sein Gegenüber – unser Gegenüber – lächelt. Sie hat den Mund leicht geöffnet, die zwei dünnen Ringe, die in ihrer Unterlippe zu stecken scheinen (vertraute Fremdkörper – so läuft heute ein Großteil der Jugend durch die Welt: durchstochen, vermeintlich ohne besondere Bedeutung) verstärken diesen Ausdruck eines ‚offenen Gesichts‘. Worüber mag sie sich freuen? Sind es die diabolisch lächelnden Großkatzen? Oder ist es die selbstbewusste Dompteurin mit Cowboystiefeln im Zentrum des Bildes, die sie heiter stimmt? Oder an etwas erinnert?

 

Es ist als könne das Bild, das sehen kann, auch sprechen. Als hätte es eben erst eine lustige, verwegene Bemerkung gemacht. Möglicherweise bringt es unsere Figur sogar vom Lächeln zum Lachen, werden die verschränkten Arme sich noch lockern.

 

Andere Betrachtende auf anderen Bildern Kowals scheinen weniger entzückt. Unverständnis, Ablehnung, Widerspruch ist den Gesichtern abzulesen. Und immer wieder diese leicht distanzierte Körperhaltung: verschränkte Arme, aufgestütztes Kinn, hochgezogene Augenbrauen, gerunzelte Stirn.
 

Die Betrachtenden haben keinen konkreten Hintergrund. Wie ausgeschnitten stehen sie im nackten Papier. Ganz normale Leute irgendwie. Und dann auch wieder doch nicht. Denn ins Museum geht nicht jeder oder jede. Wer stellt sich vor ein Kunstwerk, wer setzt sich mit ihm auseinander? Bildungsbürger*innen? Schulkinder am Wandertag? Angehende Künstler*innen? Und wie geht das überhaupt, das Auseinandersetzen? Das Betrachten von Kunst?

 

Roland Barthes schlägt zwei Archetypen des Lesen vor, Plaisir und Jouissance, die sich möglicherweise auch auf das Betrachten von Kunst anwenden lassen. Plaisir ist dabei der Typ Lesen, der sich in einem Text wiederfindet und darüber freut, dass das Lesen als ein simples Werkzeug des Erkennens und Zusammenziehens von Sinneinheiten, ihn wieder und wieder in seinem Dasein legitimiert, seine Welt bestätigt. Sein Gegenspieler Jouissance erlebt höchste Lust im Verlorengehen zwischen eben diesen Sinneinheiten. Er braucht das Lesen nicht um sich seiner selbst zu vergewissern, sondern, um sich zu vergessen. Beide finden sich in Wiebke Kowals Figuren, auch wenn es nicht immer einfach ist, die zwei voneinander zu unterscheiden. Noch immer sind sie ohne Frage Geisteshaltungen, auch wenn daran Körper hängen, Klamotten, Accessoires.
 

Lyrik, die sich im Zweifelsfall immer auf die Jouissance-Seite schlägt, lebt vom Widersprüchlichen, Unsagbaren – und dann eben doch Ausgesprochenen – wie vom Bildhaften, von den Bildern. Gedichte entstehen im Dazwischen, sie wuchern wie Unkraut in Steinspalten. Sie sind spitzfindig und nachtragend. Es ist nicht ihre Aufgabe, uns Dinge verstehen zu machen. Manchmal tun sie es dennoch. Unbeabsichtigt, aus purer Lebensfreude. Ich schreibe niemals über Bilder. Ich versuche, mich in Bilder hineinzuschreiben. Ich sauge sie auf und spucke sie wieder aus. Einvernehmliche Einverleibung, das ist der Prozess. In Wiebke Kowals Bildern ist meine Position keinesfalls die eines Gegenübers. Hier stehe ich, wie sonst nur selten, frappant zwischen den so genannten Stühlen. Dass es nur so knistert in jenem herrlichen Zwischenraum, in dem meine Lyrik wächst.


Stefan Wartenberg, August 2020

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